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IS und Kurden: Das doppelte Spiel des Recep Tayyip Erdogan

Experten sehen innenpolitische Motive.
Experten sehen innenpolitische Motive. ©AP
Auf den ersten Blick wirkt es überraschend, dass die türkische Regierung erst die radikalislamische Miliz IS in Syrien angreift und dann Stellungen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Nordirak. Denn in der europäischen Wahrnehmung leisten alle kurdischen Milizen im Kampf gegen den IS einen wichtigen Beitrag, sind also Verbündete des Westens.
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Nur teilt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan diese Einschätzung offensichtlich nicht. Außerdem verfolge er mit dem Vorgehen der türkischen Armee in Syrien und Irak ganz klar auch innenpolitische Ziele, sagen Gunther Seufert von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und Kristian Brakel von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Erdogan wird Machtausweitung vorgeworfen

Das erklärt auch die Empörung etwa in Deutschland. Statt dem Kampf gegen IS absolute Priorität zu geben, wird Erdogan der Wunsch nach innenpolitischer Machtausweitung vorgeworfen. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel mahnte deshalb den türkischen Präsidenten aus ihrem Urlaub heraus telefonisch.

Erdogan ging verstärkt gegen IS-Helfer in der Türkei vor

“In der Türkei gab es den entscheidenden Politikwechsel schon Mitte Juni, als die Kurden westlich des Euphrat in Nordsyrien Fuß fassten”, sagt SWP-Experte Seufert. “Weil gleichzeitig der IS vorrückte, drohte die Türkei den einzigen Grenzübergang zu verlieren, der sie noch mit der von Ankara unterstützten freien syrischen Armee verband”, beschreibt er die Lage in Nordsyrien. Damals hätten die türkische Armee und die USA Erdogans Pläne eines Einmarschs gestoppt. In der Folge ging die türkische Regierung verstärkt gegen IS-Helfer in der Türkei vor – was der Auslöser für den blutigen IS-Anschlag in der türkischen Stadt Suruc mit 32 Toten gewesen sein könnte.

Angst vor einem Kurdenstaat

Als wichtiges Ziel der Türkei gilt nach Einschätzung von EU-Diplomaten, in Syrien und Irak ein zusammenhängendes von Kurden kontrolliertes Gebiets zu verhindern. Denn man sorgt sich, dass dies der Nukleus eines grenzübergreifenden Kurdenstaates werden und zur Abspaltung auch türkische Kurdengebiete führen könnte. Das erklärt das lange Zögern der Türkei, den im nordsyrischen Kobane von der IS eingeschlossenen Kurden zu helfen.

Mindestens ebenso wichtig ist nach Ansicht von Experten und Kurdenpolitikern die Überlegung des türkischen Präsidenten, für November Neuwahlen in der Türkei anzustreben. Seine islamistische AK-Partei hatte bei der letzten Wahl ihre absolute Mehrheit verloren. Seither wurde keine Regierung gebildet.

“Und der mögliche Koalitionspartner, die nationalistische MHP, fordert als Voraussetzung für ein Bündnis das Ende des Versöhnungsprozesses mit der PKK”, sagt DGAP-Experte Brakel. Die Mehrheit der AKP ging verloren, weil die prokurdische Partei HDP über zehn Prozent der Stimmen erzielte. Ganz offen twittert HDP-Chef Selahattin Demirtas: “Eines der Hauptziele der Luft- und Bodeneinsätze sowie der Medienkampagne ist das Untergraben der HDP in vorgezogenen Neuwahlen.”

“Ziel: Kurden in der Türkei schwächen”

Diese Einschätzung wird in Berlin geteilt. “Es ist höchst problematisch, dass die türkische Regierung die Außen- und Verteidigungspolitik instrumentalisiert, um innenpolitische Ziele zu erreichen”, kritisierte SPD-Fraktionsvize Axel Schäfer. Ziel sei es, die Kurden in der Türkei zu schwächen.

Möglicherweise gibt es aber noch ein weiteres Motiv: Erdogan könnte mit dem Vorgehen gegen die PKK die Kritik daran abzulenken, dass die Türkei den USA jetzt doch die Nutzung des Luftwaffenstützpunktes Incirlik für Angriffe auf den IS in Syrien erlaubt. “Das kommt sowohl auf dem rechten wie auf dem linken politischen Spektrum in Ankara nicht gut an”, sagt Brakel, der auch das Türkei-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul leitet.

USA geben Erdogan Rückendeckung

Allerdings geben die USA Erdogan Rückendeckung beim Vorgehen gegen die PKK. Diese sei schließlich eine terroristische Organisation, sagt der Sprecher von US-Präsident Barack Obama, Ben Rhodes. Die deutsche Bundesregierung sieht dies ganz anders und pocht auf die friedliche innerstaatliche Aussöhnung. Die türkisch-amerikanische Denkweise, dass “der Feind meines Feindes gleichzeitig mein Freund” sei, gehe in der Region nicht auf, warnt SPD-Fraktionsvize Schäfer.

Und die Türkei-Experten Brakel und Seufert bezweifeln, dass Erdogan den Prozess gefahrlos bis zu Neuwahlen steuern kann. Denn nun gerate die Türkei in einen gefährlichen Zweifrontenkrieg – gegen die IS und die Kurden. “Das ist ein Spiel mit dem Feuer”, warnt Seufert.

(APA/Reuters)

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