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Fatah und Hamas geloben Gewaltverzicht

Die palästinensische Regierungspartei Fatah von Präsident Mahmoud Abbas und Premier Ahmed Korei und die radikale islamische Hamas-Bewegung haben für den Wahltag (25. Jänner) Gewaltverzicht gelobt.

Wenige Tage vor den palästinensischen Parlamentswahlen haben die regierende Fatah und ihre radikale Hauptkonkurrentin, die islamische Hamas, für den Urnengang am 25. Jänner Gewaltverzicht gelobt. In einer in der Nacht auf Donnerstag in Gaza veröffentlichten gemeinsamen Erklärung bekannten sich die politischen Gegner auch zur Zusammenarbeit nach den Wahlen. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier erklärte unterdessen in Kairo, er halte eine spätere Regierungsbeteiligung der Hamas grundsätzlich für möglich, wenn sie sich „als politische Kraft von der Gewalt verabschiedet“.

In der gemeinsamen Erklärung von Fatah und Hamas heißt es, dass beide Seiten im Hinblick auf die Wahlen im Westjordanland, Gaza-Streifen und Ostjerusalem kooperieren, um einen friedlichen Verlauf der Abstimmung zu gewährleisten. Die künftige Partnerschaft werde dem palästinensischen Volk und seinen dringlichsten Bedürfnissen zum Nutzen gereichen. Am Wahltag dürften keine Waffen getragen werden. Vor allem bewaffnete Fatah-Anhänger der fanatischen Splittergruppe „Al-Aksa-Märtyrerbrigaden“ hatten in jüngster Zeit mehrfach die Büros der Wahlbehörde gestürmt und eine Änderung der Kandidatenlisten zu ihren Gunsten gefordert.

Nach einer Unterredung mit dem ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak erklärte Steinmeier: „Regierungsbeteiligt kann nur sein, wer sich als politische Kraft von der Gewalt verabschiedet.“ Wenn die Hamas dies tue, könne man sich eine Regierungsbeteiligung vorstellen. „Aber es scheint für die Hamas noch ein weiter Weg zu sein“, fügte er hinzu. Der deutsche Außenminister, der auch mit dem Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Mussa, zusammentraf, sagte, er hoffe ebenso wie Mubarak, dass die kommenden Wahlen in Palästina und Israel Ergebnisse brächten, die die Fortsetzung des Friedensprozesses ermöglichen würden. Die Europäische Union dringt auf eine zwischen Israelis und Palästinensern abgestimmte Friedenslösung auf der Basis des internationalen Fahrplans (Roadmap).

Israels Staatspräsident Moshe Katzav hatte vor zwei Tagen in einem Radiointerview nicht ausgeschlossen, dass es eines Tages Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas geben könnte. Dazu müsse die Gruppe aber ihr Ziel der Vernichtung Israels aufgeben und ihre Waffen abgeben, hatte Katzav verlangt. Die neue israelische Außenministerin Tzipi Livni hat ihrerseits die Hamas-Wahlbeteiligung bedauert. Es sei undenkbar, dass ein europäisches Land oder die USA eine „terroristische Organisation“ zu Wahlen zugelassen hätten, sagte sie am Mittwoch nach ihrer Amtsübernahme in Jerusalem. Nach jüngsten Umfrageergebnissen vom Mittwoch kommt die Hamas auf 27 Prozent der Wählerabsichten, die regierende Fatah auf 36. Präsident Mahmoud Abbas hatte am Mittwoch mit Rücktritt gedroht, sollte seine Politik der Versöhnung mit Israel keine Unterstützung mehr finden.

Der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete frühere US-Präsident Jimmy Carter und mehrere europäische Ex-Regierungschefs werden die palästinensischen Wahlen am Mittwoch nächster Woche beobachten. Carter wird eine 80-köpfige Delegation gemeinsam mit Schwedens Ex-Premier Carl Bildt, dem albanischen Ex-Präsidenten Rexhep Meidani und der früheren spanischen Außenministerin Ana Palacio leiten. Zu dem Team gehören auch Menschenrechts- und Wahlrechtsexperten. Das EU-Wahlbeobachterteam wird von der belgischen Europaabgeordneten Véronique de Keyser angeführt.

Wahl des palästinensichen Parlaments

Zur zweiten Wahl eines palästinensischen Parlaments seit 1996 haben sich von insgesamt 3,8 Millionen Palästinensern 1,34 Millionen für die Abstimmung registrieren lassen. Vor rund zehn Jahren gewann Yasser Arafats Fatah-Organisation 62 von 88 Sitzen im Palästinensischen Legislativrat (PLC). Für die bevorstehende Wahl am 25. Jänner wurde das Wahlsystem geändert und das Parlament vergrößert. Der PLC hat künftig132 Sitze, die mittels eines gemischten Systems aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht vergeben werden.

Jeder Wähler hat mehrere Stimmen: Mit der ersten wählt er eine Partei bzw. deren Liste. Zudem kann er direkt für einen oder mehrere Kandidaten seines Wahlbezirks votieren, maximal so viele, wie aus dem jeweiligen Wahlkreis in das Parlament entsandt werden. Insgesamt konkurrieren 414 Direktkandidaten um 66 Sitze. Die meisten treten als Unabhängige an.

Die palästinensischen Gebiete sind in 16 Wahlbezirke unterteilt, elf im Westjordanland und fünf im Gaza-Streifen. Insgesamt haben elf Parteien und Bündnisse 314 Listenkandidaten für 66 Sitze nominiert. Die drei wichtigsten: die regierende Fatah, die radikale Hamas, die unter dem Namen „Liste für Veränderung und Reform“ antritt, sowie das „Unabhängige Palästina“ von Mustafa Barghouti.

Das Wahlgesetz schreibt eine Frauenquote vor, nachdem im bisherigen PLC nur 5 von 88 Abgeordneten weiblich waren. Bei den kommenden Wahlen muss jede Liste unter den ersten drei Kandidaten mindestens eine Frau aufführen. Eine Extraklausel reserviert zudem insgesamt sechs Sitze für christliche Kandidaten.

Wie schon 1996 und bei der Präsidentenwahl 2005 dürfen etwa 5700 Palästinenser in der Jerusalemer Altstadt ihre Stimmen in fünf Postämtern abgeben. Alle anderen Palästinenser in Ostjerusalem – etwa ein Drittel der 250.000 Einwohner ist wahlberechtigt – müssen in Wahllokalen außerhalb der Stadtgrenze abstimmen.

Kommt politisches Erdbeben?

Die Kandidaten der radikalen islamischen Palästinenserorganisation Hamas strotzen vor Selbstvertrauen. Ein Erfolg der Bewegung, die sich als „Liste für Veränderung und Reform“ am 25. Jänner erstmals um Sitze im Parlament bewirbt, gilt als sicher. Im Gaza-Streifen wird sogar über die Möglichkeit eines örtlichen Sieges über die regierende Fatah gesprochen. Diese muss fürchten, dass ihre absolute Mehrheit, die noch aus den Zeiten Yasser Arafats stammt, nun in einem politischen Erdbeben zusammenbricht.

Im Wahlkampf sind die Straßen der Stadt Gaza in ein Meer von Fahnen und politischen Spruchbändern getaucht. „Reform und Aufbau“, ein Ende der Korruption und Arbeitsplätze versprechen fast alle Parteien. Anders als die Fatah von Präsident Mahmoud Abbas und Premier Ahmed Korei kann die Hamas bei einem wichtigen Teil der Wähler darauf setzen, nicht mit dem Chaos und Gewalt der letzten Monate identifiziert zu werden. Sie betreibt ein eigenes Wohlfahrtssystem und hat nun auch einen Fernsehsender. Hamas hat hunderte Angriffe und Anschläge verübt. Vor fast einem Jahr setzte sie Selbstmordanschläge in Israel nach einem innerpalästinensischen Abkommen aus.

Fatehi Hammad (45), Kandidat der Hamas im Norden des Gaza-Streifens, glaubt an den politischen Umbruch bei der Wahl, auch wenn sich die Fatah einer Niederlage nicht einfach fügen werde. „Am Anfang wird es schwer, dann aber leicht“, prognostiziert er. Denn: „Die Hamas ist eine Organisation im Wachstum, Fatah schrumpft immer weiter.“ Hammad, ein kräftiger Mann mit kantigem Schädel und dunklem Vollbart, hat mit der Waffe in der Hand gegen Israel gekämpft und war mehrfach im Gefängnis. Sechs Jahre saß er in israelischer Haft ab. Auf immerhin zwei Jahre addieren sich aber auch drei Strafen hinter palästinensischen Gittern. Nach seiner Freilassung wandte er sich der Politik zu.

„Startpunkt ist der Islam. Wir wollen eine islamische Wirtschaft, ein islamisches Sozialsystem“, sagt er. „Der Islam ist die Lösung.“ Der von der Fatah kontrollierten Regierung wirft Hammad vor, ein korruptes System der Günstlingswirtschaft etabliert zu haben, für das 30.000 bezahlte Arbeitsplätze erfunden wurden, die nicht an Arbeitsleistungen für die Gemeinschaft geknüpft seien. Auch die Zollunion mit Israel sei ein großer Fehler.

Die politischen Attacken der Hamas gegen das etablierte System fallen auf fruchtbaren Boden. Mehr als 30 Prozent der Wähler wollen nach einer aktuellen Umfrage des DSP-Instituts der Bir Zeit-Universität für Hamas stimmen. Die Unterstützung für die Fatah ist mit 34 Prozent nur noch wenig größer. „Der Wettstreit zwischen Fatah und Hamas ist auf einem Höhepunkt“, sagt DSP-Direktor Nader Said. „In der Geschichte der Umfragen ist dies das erste Mal, das Hamas und Fatah so nah beieinander sind.“

Der Hamas-Führer Said Siam lehnt sich im Garten seinen Hauses in Gaza zurück. Vor dem Tor hat er seinen alten französischer Kleinwagen geparkt, der sich von den schweren Geländewagen und Limousinen anderer Palästinenserführer abhebt. „Jetzt wollen wir die politischen Aktivitäten mit dem legalen bewaffneten Kampf verheiraten“, sagte er. „Unsere heutige Welt akzeptiert keine Schwäche.“

Palästinensiche Selbstverwaltung

Die palästinensische Selbstverwaltung im Gaza-Streifen und Teilen des Westjordanlands begann 1994 nach der Unterzeichnung der Oslo-Verträge mit Israel. Die „Palästinensische Nationalbehörde“ (PNA) – von Israel nur als „Palästinensische Behörde“ (PA) anerkannt – als ein Völkerrechtsobjekt „sui generis“ wurde ursprünglich für eine Übergangsphase als Wegbereiter für einen eigenständigen Staat eingerichtet. Im Jänner 1996 konnte die Bevölkerung einen aus 88 Abgeordneten bestehenden Legislativrat (PLC) und einen Präsidenten wählen. Der Vorsitzende der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), Yasser Arafat, wurde erster Präsident.

Die Behörde als Regierungsorgan ist für eine Vielzahl von Bereichen zuständig – von Wirtschaftsfragen bis zur inneren Sicherheit. Nach dem Tod Arafats im November 2004 wurde im Jänner 2005 Mahmoud Abbas (Abu Mazen), Hauptarchitekt des Oslo-Prozesses, zum Präsidenten gewählt. Als Legislative fungiert das Parlament, in dem die 1958 gegründete Fatah über die Zweidrittelmehrheit verfügt.

International ist die PLO als Vertretung des palästinensischen Volkes anerkannt, sie hat bei den Vereinten Nationen Beobachterstatus und ist Vollmitglied der Arabischen Liga mit allen staatlichen Prärogativen. Die während der so genannten Interimsphase bis zur Verwirklichung der staatlichen Unabhängigkeit koexistierenden Organe der PLO und der PNA (bzw. PA) haben in der Person des Präsidenten eine gemeinsame übergeordnete Instanz. Er führt den Vorsitz im PLO-Exekutivkomitee und steht der Regierung vor, die von einem (von ihm vorgeschlagenen und vom Parlament bestätigten) Premier (Ahmed Korei) geleitet wird.

Bis zu einem Friedensschluss sind die Kompetenzen der Selbstverwaltungsorgane durch das 2002 in Kraft getretene „Grundgesetz der Palästinensischen Nationalen Autorität“ geregelt. Darin heißt es, alle Macht gehe vom palästinensischen Volk aus – eine Formulierung, die von den islamistischen Gruppen nicht akzeptiert wird, da sich nach deren Auffassung jede staatliche Autorität vom islamischen Gesetz ableiten muss.

In dem Grundgesetz sind die Prinzipien der parlamentarischen Demokratie und der Gewaltenteilung verankert. Jerusalem wird als „Hauptstadt Palästinas“ bezeichnet. Bis zur Erreichung der vollen staatlichen Souveränität stehe es den palästinensischen Behörden frei, den Sitz der Regierung an einem anderen Ort einzurichten. Weiter heißt es, Frauen und Männer hätten gleiche Grundrechte und Freiheiten ohne jede Diskriminierung. Palästina anerkenne und respektiere die Menschen- und Grundrechte, wie sie in internationalen Konventionen festgelegt sind.

Der Premierminister ist zwar mit umfangreichen Exekutivvollmachten ausgestattet, die Richtlinienkompetenz in der Außen- und Sicherheitspolitik liegt aber beim Präsidenten. Das Gesetz über das Ministerpräsidentenamt orientiert sich an den Verfassungen Ägyptens und Frankreichs; die Premiers in Kairo und Paris sind im Grunde Assistenten des Präsidenten, der das letzte Wort in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat.

Die PNA hat eine Polizeitruppe von mindestens 30.000 Mann. Nach Ausbruch der zweiten Intifada im Herbst 2000 und einer massiven Verschärfung der israelischen Blockademaßnahmen wuchsen das Chaos in den palästinensischen Gebieten und der innenpolitische Druck auf die Führung, der immer wieder Korruption vorgeworfen wird. Sitz von Regierung und Parlament ist Ramallah im Westjordanland.

Die palästinensischen Gebiete gehören zu den ärmsten Regionen der Welt. Zwei Drittel der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Der durchschnittliche Tageslohn eines Arbeiters liegt bei umgerechnet etwa 12 Euro. Die Arbeitslosigkeit hat sich seit Beginn der zweiten Intifada mehr als verdoppelt und beträgt im Gaza-Streifen über 40 Prozent. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) geht weniger als die Hälfte der palästinensischen Männer und unter zehn Prozent der Frauen im erwerbstätigen Alter einer regelmäßigen Beschäftigung nach. Durch israelische Blockaden haben nach UNO-Schätzungen seit 2000 mehr als 100.000 von 125.000 Palästinensern ihre Arbeit in Israel verloren. Die von Israel errichtete Sperranlage, die mit dem Schutz vor Terroranschlägen begründet wird, schneidet streckenweise tief in das Westjordanland. Ihr Verlauf ist vom Internationalen Gerichtshof und von der UNO-Generalversammlung als völkerrechtswidrig eingestuft worden.

Stichwort “Palästina”

„Palästina“ war im vorigen Jahrhundert die Bezeichnung des Mandatsgebiets, das der Völkerbund 1922 Großbritannien zugewiesen hatte und von dem 1923 das haschemitische Emirat Transjordanien abgetrennt wurde. Der Beschluss der Vollversammlung der Vereinten Nationen (Resolution 181) vom November 1947, Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat zu teilen und Jerusalem zu neutralisieren, führte zur Unabhängigkeitserklärung Israels im Mai 1948 und zum ersten israelisch-arabischen Krieg nach dem Überfall der Armeen der arabischen Nachbarn auf den jüdischen Staat.

Im Verlauf der Kampfhandlungen gelang es Israel, sich über das im UNO-Teilungsplan vorgesehene und als Grundlage der Unabhängigkeitserklärung dienende Territorium hinaus weitere Gebiete einzuverleiben. Im Sechstagekrieg 1967 besetzten die Israelis das Westjordanland einschließlich der Altstadt von Jerusalem, das seit 1950 Teil des Königreichs Jordanien war.

„In Anerkennung des legitimen Rechts der Palästinenser auf einen unabhängigen Staat“ proklamierte der jordanische König Hussein im Juli 1988 die staatsrechtliche Ausgliederung des Westjordanlandes mit Ostjerusalem aus seinem Reich. Dieser Schritt war eine direkte Folge der ersten „Intifada“, des Volksaufstands der Palästinenser gegen die israelische Besatzungsmacht. Der Palästinensische Nationalrat (PNC) als Exilparlament und höchste Instanz der 1964 gegründeten Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) rief am 15. November 1988 in Algier den – von der Mehrheit der UNO-Mitglieder anerkannten – „Staat Palästina“ auf dem Territorium des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens aus und wählte PLO-Chef Yasser Arafat zum Präsidenten.

1993 einigten sich Israel und die PLO auf die gegenseitige Anerkennung und auf die Grundlinien einer palästinensischen Selbstverwaltung. Die Oslo-Abkommen ermöglichten die Schaffung einer palästinensischen Regierungsbehörde als Völkerrechtsobjekt „sui generis“ und die Wahl eines aus 88 Abgeordneten bestehenden Legislativrates.

Nach den vertraglichen Bestimmungen hätte der definitive Status bis zum Ende der vorgesehenen Interimsphase im Mai 1999 geklärt sein müssen. Durch den israelischen Regierungswechsel 1996 (Likud löste Arbeiterpartei ab) und die Siedlungskampagne in den besetzten Gebieten wurde der Verhandlungsprozess zurückgeworfen. Nach dem Zwischenabkommen von Sharm el-Sheikh hätten die Endstatusverhandlungen am 13. September 2000 abgeschlossen sein müssen.

Die zweite Intifada, die im Herbst 2000 ausbrach, hat die Hoffnungen auf baldige staatliche Unabhängigkeit zunächst zerstört. Die wachsende internationale Unterstützung für einen souveränen palästinensischen Staat wurde mit der Aufwertung des Status der PLO durch die UNO-Vollversammlung deutlich, die 1999 mit den Stimmen von 124 Staaten beschlossen wurde. (Dagegen stimmten neben Israel und den USA lediglich Mikronesien und die Marshall-Inseln). Der Friedens-Fahrplan (Roadmap) des Nahost-„Quartetts“ (USA, UNO, EU, Russland) wurde 2002 ausgearbeitet. Er sah einen unabhängigen und existenzfähigen palästinensischen Staat bis Ende 2005 vor.

Wahl nur eine Show?

Die erste palästinensische Parlamentswahl seit zehn Jahren stellt Weichen für eine politische Neuordnung der nahöstlichen Region. Gut ein Jahr nach dem Tod von Präsident Yasser Arafat gilt die Wahl am kommenden Mittwoch (25. Jänner), bei der erstmals auch die radikale islamische Hamas-Bewegung kandidiert, als wegweisend. Angesichts der schweren Krankheit des israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon (77) wird sie von einer starken Ungewissheit und wachsendem Chaos in den palästinensischen Gebieten begleitet. Auch in Israel gibt es in zwei Monaten eine entscheidende Parlamentswahl.

Im Westjordanland und im Gaza-Streifen können mehr als 1,3 Millionen Wahlberechtigte in 16 Wahlbezirken an der Abstimmung teilnehmen, die von internationalen Beobachtern, darunter einem starken EU-Kontingent und dem amerikanischen Ex-Präsidenten und Friedensnobelpreisträger Jimmy Carter, überwacht wird. Der Wahlkampf ist vor allem gekennzeichnet von der großen Vielfalt an Kandidaten und Listen: Alle politischen Fraktionen außer dem „Islamischen Heiligen Krieg“ (Jihad Islami) nehmen daran teil.

In Anbetracht der großen Erfolge der Hamas bei den vorjährigen Kommunalwahlen fürchtet die regierende Fatah von Präsident Mahmoud Abbas und Premier Ahmed Korei einen Verlust ihres Gewichts im Parlament, dem Palästinensischen Legislativrat (PLC). Bei den allgemeinen Wahlen am 20. Jänner 1996 hatte die Fatah mit 62 Mandaten mehr als zwei Drittel der 88 Abgeordnetensitze erobert. Nach jüngsten Meinungsumfragen kann Hamas jetzt mit knapp einem Drittel der Stimmen rechnen. Auch wenn Hamas über eine starke Fraktion im neuen Parlament verfügen sollte, das künftig aus 132 Mitgliedern bestehen wird, sagt das noch nicht zwingend etwas über eine Regierungsbeteiligung aus. Auch die bisherige Regierung bestand hauptsächlich aus Experten, nicht aus gewählten Parlamentariern.

Außenminister Nasser Kidwa betont den deutlichen Unterschied zwischen Exekutive und Legislative. Er sei zuversichtlich, dass „die allgemeine Richtung sich nicht ändern“ werde. Bedingung für eine Regierungsbeteiligung sei eine Akzeptanz der politischen Linie, die eine Friedensregelung mit Israel anstrebt. Aus israelischer Sicht sind Verhandlungen mit einer Regierung, in der zahlreiche Hamas-Minister säßen, angesichts der blutigen Terroranschläge der vergangenen Jahre kaum denkbar.

Ungeachtet möglicher Hamas-Erfolge rechnen politische Beobachter im Westjordanland jedoch nicht mit dramatischen Veränderungen in der Regierung. Es wird davon ausgegangen, dass Korei Ministerpräsident bleibt oder mit seinem derzeitigen Stellvertreter Nabil Shaath ein anderes Fatah-Mitglied das Amt übernimmt. Der Regierungschef, der vom Präsidenten vorgeschlagen und von den Abgeordneten bestätigt wird, muss nach den Bestimmungen des palästinensischen Grundgesetzes nicht unbedingt Abgeordneter sein.

Ein Einwohner Ramallahs sieht die Zukunft nach den Wahlen düster: „Nichts wird sich verändern. Kann das neue Parlament die (israelische) Besatzung beenden oder die Mauer abbauen? Das ist doch alles nur eine große Show.“ Amjad Abdul Kader, ein bärtiger junger Mann, der gerade eine Moschee in der Schwesterstadt El-Bireh verlässt, sieht Hamas hingegen als „Antwort auf alle unsere Probleme“. Er glaubt, „dass alles anders wird, wenn Hamas mit Gottes Hilfe gewinnt – die Rückkehr zum Islam ist unsere Rettung.“ Eine Stimmabgabe für Hamas gilt vielen als Protestwahl gegen die Fatah, der immer wieder Korruption und Nepotismus vorgeworfen wurden.

Ein Kommentator der palästinensischen Zeitung „Al-Ayyam“ sieht die Wahlen zum Legislativrat als „wichtige Kreuzung auf dem Weg zu Veränderungen“. „Wir wollen dem System der übermächtigen einen Partei und ihrer politischen Hegemonie ein Ende setzen. Wir wollen mehr Pluralismus, der den verschiedenen Standpunkten in unserer Gesellschaft Ausdruck verleiht.“ Die palästinensische Gesellschaft müsse mit dieser Wahl Verantwortung für ihre Entscheidungen und ihre Zukunft übernehmen. „Wir können entweder in die Richtung positiver Veränderungen gehen oder uns zurückentwickeln…“

Fatah und Hamas

Bei den palästinensischen Parlamentswahlen am kommenden Mittwoch konkurrieren zwei Bewegungen: die regierende Fatah als stärkste Komponente der (1964 gegründeten) Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und die außerhalb der PLO stehende Hamas, die Israels Existenzrecht bestreitet und im Westen weithin als terroristische Organisation angesehen wird. Nach jüngsten Umfrageergebnissen käme Hamas auf 27 Prozent der Wählerabsichten, die Fatah auf 36.

Die Fatah (Abkürzung für „Palästinensische Nationale Befreiungsbewegung“) wurde 1958 im Exil in Kuwait von jungen Intellektuellen gegründet, die sich damals am algerischen Unabhängigkeitskrieg orientierten. Schwerpunkt war nicht der arabische Nationalismus, sondern die „Befreiung Palästinas“ in einem internationalen Kontext des Kampfes gegen Kolonialismus und Imperialismus. Die Führung übernahm Yasser Arafat (Kampfname: Abu Ammar), nach dessen Tod Ende 2004 der ehemalige PLO-Außenminister Farouk Kaddoumi (Kaddumi) Vorsitzender wurde.

Die Hamas (Abkürzung für „Bewegung des Islamischen Widerstandes“) wurde 1987 zu Beginn des ersten Volksaufstands (Intifada) von Scheich Ahmed Yassin in Gaza gegründet, angeblich mit Unterstützung der israelischen Geheimdienste, die damit das Ziel verfolgten, Arafat politisch zu schwächen. Yassin hatte wiederholt erklärt, dass Selbstmordanschläge „bis zur Befreiung Palästinas“ fortgesetzt würden. Yassin und sein Nachfolger Abdelaziz Rantisi wurden Opfer von „gezielten Tötungen“ der israelischen Armee im Gaza-Streifen. Der jetzige politische Führer Khaled Mechaal (Mashaal) hält sich zumeist in Syrien auf.

Der militärische Arm der Hamas, „Brigaden Ezzedin el Kassam“, hat sich zu einer Reihe von Selbstmordanschlägen bekannt. (Ezzedin el Kassam war ein nationalistischer arabischer Scheich, der 1935 im Kampf gegen die damalige britische Mandatsmacht umkam.) Neben dem militärischen und dem politischen Arm der Organisation gibt es eine Reihe von sozialen Diensten, die sich um Ausbildung, Gesundheitsfürsorge und Arbeitsbeschaffung kümmern, sowie Bedürftige mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgen. Auch Hinterbliebenen von Opfern im Kampf gegen Israel und Familien von inhaftierten Palästinensern werden unterstützt.

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