“Tschick” von Wolfgang Herrndorf erwies sich im Jahr 2010 als “Überraschungsbestseller”, von dem sich rund 2 Millionen Exemplare verkauften. Doch zum Zeitpunkt des Erscheinens des Buches litt der deutsche Autor bereits unter einem bösartigen Hirntumor. Am 26. August 2013 setzte der 48-Jährige seinem Leben in Berlin ein Ende.
Wiedersehen mit “Tschick”-Figur
Im September 2014 ist das Werk erschienen, an dem Herrndorf bis zu seinem Tod noch intensiv arbeitete: der Fragment gebliebene Roman “Bilder deiner großen Liebe”. Darin gibt es ein Wiedersehen mit einer Romanfigur, die in “Tschick” bereits eine Rolle spielte – dem “Müllmädchen” Isa, das dem Erzähler ein wenig den Kopf verdrehte und den beiden Burschen auf ihrem Road Trip Gesellschaft leistete.
Flucht als Auftakt eines Road Trips
“Verrückt sein heißt ja nur, dass man verrückt ist und nicht bescheuert.” Schon mit dem ersten Satz von Herrndorfs Romanfragment taucht man mitten hinein in die Gedanken- und Gefühlswelt der 14-jährigen Isa. Am Beginn von “Bilder deiner großen Liebe” steht eine Flucht aus einer nicht näher definierten Anstalt. Was folgt, ist ein Road Trip zu Fuß und als Anhalterin. Der Leser begleitet das junge Mädchen Isa auf eine fluchtartige Reise ohne Sinn und Ziel, lässt sich mit ihr treiben und teilt ihre Beobachtungen alltäglicher Dinge und zufällige Begegnungen mit verschiedenen Menschen, die ihren Weg kreuzen. Von Eindruck zu Eindruck, den Elementen ausgesetzt, lebt Isa während des ganzen Romans von der Hand in den Mund. Sie läuft barfuß kilometerweit umher, übernachtet im Freien, was sie von klein auf liebt, und stiehlt sich Essen zusammen, wenn sie Hunger hat.
Körperlichkeit und sexuelle Anspielungen
“Ich wollte ein Junge sein, solange ich denken kann.” Die Erzählung ist stark von Körperlichkeit und sexuellen Anklängen geprägt. Eine Frau nimmt sie als Autostopperin mit und greift ihr zwischen die Beine, sie bekommt ihre Menstruation und säubert sich notdürftig unter einem Rasensprenger, wobei sie von einer Fußballmannschaft junger Männer überrascht und beflegelt wird, sie erinnert sich an das Gefühl eines plötzlichen “Stichs” zwischen den Beinen, als sie für eine Mutprobe Blaubeeren aus dem Garten eines “Irren” holen möchte, vor dem alle Kinder Angst haben. In einer anderen Szene bietet sie einem fremden Burschen Oralverkehr an – für 50 Cent oder einen Euro.
Surreales in “Bilder deiner großen Liebe”
“So schön ist alles, wenn es schön ist, aber meistens ist es nur in meinem Kopf.” Immer wieder gleitet die Erzählung ins Surreale ab oder schrammt haarscharf daran vorbei. Isa phantasiert sich das Haus eines Urgroßvaters und einen Ehemann zusammen, der aus Afghanistan zu ihr zurückkehrt. Sie trifft ein taubstummes Kind, das sich mit ihr unterhält. Ein Lastkahn nimmt sie mit, der Fahrer gibt sich als Bankräuber aus, der seit Jahren auf der Flucht ist – der Wahrheitsgehalt seiner Geschichte bleibt ungewiss. Isa findet die liegen gebliebene Computertasche eines Selbstmörders mit dem handschriftlichen Vermerk, er habe sich umgebracht und Bitte, seine Bezugspersonen zu verständigen. Isas Vater, ein Physiker, wird als Sicherheit ausstrahlende Figur, als ruhender Pol und sicherer Anker beschrieben – der von einem Meteoriten erschlagen wurde. Isa zeigt sich als alles andere als verlässliche Ich-Erzählerin.
Vergänglichkeit und Wehmut im Romanfragment
Wolfgang Herrndorfs Vermächtnis
“Bilder deiner großen Liebe. Ein unvollendeter Roman” ist gewissermaßen Herrndorfs Vermächtnis – so berührend wie intensiv. Den Titel des Werkes hat der Autor zu Lebzeiten noch selbst festgelegt, und auch noch bestimmt, dass seine Weggefährten Marcus Gärtner und Kathrin Passig, ebenfalls literarisch tätig, sich des Manuskriptes annehmen und dieses für die Veröffentlichung finalisieren würden. Im Anhang des schmalen Bandes führen die Herausgeber die Entstehung des Buches aus, und verraten, dass Herrndorf selbst einen “Cameo”-Auftritt in dem Buch hat: als Mann in grüner Trainingsjacke, der Isa ironischerweise auf dem Friedhof begegnet.
Wolfgang Herrndorf: “Bilder deiner großen Liebe”, Rowohlt Berlin, 144 Seiten, 17,50 Euro
(DHE)