Die Moderne des 20. Jh. war jedenfalls der Auffassung, die vorausgegangene Epoche der Architektur sei eine der Lüge und des Etikettenschwindels gewesen. Und man hatte sich vorgenommen, vom Nützlichen durchs Wahre zum Schönen zu gelangen. Ganz so, wie die Dinge im vorliegenden Fall, einer Wohnanlage in der Riedergasse in Bregenz, zu liegen scheinen.
18 Wohnungen sind auf zwei Bauten verteilt – im fünfgeschoßigen 15 kleinere Mietwohnungen, im zurückgesetzten dreigeschoßigen drei Wohnungen zur Miete oder Eigentum. Bei durchaus nicht üppigem Grundstück hat dennoch jede Wohnung süd- oder westseitig großzügig Zugang ins Grüne, direkt ebenerdig oder mittels Balkonen, die so angelegt sind, dass sie den Nachbarblicken entzogen sind. Beide Häuser sind Massivbauten mit solider Ausstattung, Niedrigenergiestandard mit Geothermie und Fußbodenheizung. Eine eigene Tiefgarage, gedeckter Fahrradstellplatz und Kinderspielplatz ergänzen das Angebot.
Ein feines Wechselspiel charakterisiert die Anlage. Die flachgedeckten Bauten wechseln die Richtung und bilden mit der Tiefgaragenabfahrt intime Außenräume mit Zugangswegen. Schutz der Privatsphäre bieten Hecken, eine ergänzende Buchen- Allee zur Straße bzw. Birken zum Nachbarn, die ihre Wirkung vor der sachlichen Geometrie der Baukörper entfalten. Diese sind mit einen groben Rillenputz versehen, in hellem Braun gehalten; in Kontrast dazu weißgestrichene Fenster in glatter, weißer Laibung. Ein Wechsel, der am eindrucksvollsten an der Südseite des hohen Hauses ausgespielt wird. In regelmäßigem Versatz hängen wabenförmig Balkonlauben vor der Putzfassade – weiße Metallkonstruktionen, die dank der Welle der Brüstungen und Sichtschutzwänden fein und zierlich wirken. Auf diese Art sind auch die Fenster der anderen Seiten zu Bändern zusammengefasst – fein und in ausgewogener Proportion zum groben Putz.
Die vermeintliche Kleinigkeit des groben Putzes erstaunt: Das Haus verfügt über ein Dämmsystem, das heute üblicherweise mit einem dünnen, glatten Witterungsschutz versehen wird. Das Putz zu nennen, ist eigentlich Schönrederei, doch es ist „ehrlich“ – leicht und billig – konstruiert. Aus dieser Sicht ist der hier eingesetzte grobe Rillenputz „Schwindel“, der zudem einen Mehraufwand darstellt. Doch was heißt ehrlich, was Schwindel? Man braucht sich nur umzudrehen und es wird klar, was hier Grund und Antrieb war. Gegenüber liegt die Villa Liebenstein, heute Musikhochschule, die einst mit ähnlichen Bauten die Hauptstraße gesäumt hat. Noch behaupten sich manche Exemplare dieser herrschaftlichen Massivbauten, fein gegliedert in mehrfarbiger Klassik inmitten stattlichem Baumbestand. Dem ist die neue Bauanlage verpflichtet. „Wichtig war die Reaktion auf die Umgebung,“ so der Architekt Christian Lenz, „die Gliederung der Anlage, die baumeisterliche Antwort auf die Nachbarn und das Grün um die Bauten.“ Demnach: Nicht so sehr Wahrheit, die den Bau aus sich – seiner Nutzung und Bauart – erklärt, sondern in Beziehung zu seinem Gegenüber? Weniger Wahrheit, eher Wahrhaftigkeit – eine persönlich verantwortete Reaktion auf einen konkreten Kontext?
Das ist keine Wiederholung von dem, was vorliegt, sondern fachlich gesichertes Weiterbauen – in Zeiten wie unserer, die kaum mehr als ökonomische Rationalität kennt: das Vermögen, auch mit vermeintlichen „Kleinigkeiten“ Wirkung zu erzielen. Was sich an einem Detail wie dem Putz zeigt, findet sich immer wieder, sei es ein kleines Vestibül oder ein Stauraum, sei es ein massiver Eichenboden, sei es die sorgfältige Ausführung der Treppenhäuser – von reichlich Tageslicht über solide Ausführung bis zur Baukonstruktion und Farbwahl, die wieder ein Wechselspiel von dunklem Boden, weißem feingegliederten Geländer und naturbelassenem Handlauf zeigt.
„Es sind Kleinigkeiten,“ so Carl-Heinz Fink von der Vorarlberger Landesversicherung V.a.G., „von denen ein Haus lebt. Und um diese Kleinigkeiten hat der Architekt gerungen.“ Anders gesagt: Richtige Planung und ein engagierter Bauherr schaffen Qualitätsgewinn, der sich auszahlt. Das bestätigen die Bewohner(innen), die seit einem halben Jahr die Anlage bewohnen – in Citynähe, im Grünen, in ruhiger Lage und mit Blick auf den See oder mindestens in die Berge.
Daten & Fakten
Objekt: Wohnanlage Riedergasse, Bregenz
Bauherr: Vorarlberger Landesversicherung V.a.G.
Architektur: Architekturbüro DI Christian Lenz
Statik: Mader & Flatz ZT GmbH
Ingenieure/ Fachplaner: Generalunternehmer: Rhomberg Bau
Planung: ab 2012
Ausführung: 3/2013–8/2014
Grundstücksgröße: 1882 m²
Wohnnutzfläche: 1303 m²
Bauweise: Stahlbeton und Mauerwerk; Loggien in Stahlkonstruktion auf auskragenden Stahlbetonplatten; Kalk- Zement-Grundputz; Mauerwerk 18 cm oder Stahlbeton 18 cm; Dämmung 12 cm; Fassade mit Grund- und Silikatputz bzw. Wellblech; Decken Stahlbeton; eines der Flachdächer extensiv begrünt; Fliesen in Nassräumen und Stiegenhäusern; Parkett in Wohnungen; Heizung mit Wärmepumpe, Haus 1: Holzfenster, Haus 2: Kunststofffenster
Besonderheiten: Außenfassade mit Rillenputz, Fensterlaibungen glatt verputzt; Loggien, Fensterbänder und Trennwände mit weißem Wellblech verkleidet. Aus dem Versatz dieser weißen Boxen resultiert ein unregelmäßiges, dreidimensionales Spiel der Südfassade
Energiekennwert: 32 kWh/m² im Jahr (Haus 1); 26,4 kWh/m² im Jahr (Haus 2)
Baukosten: ca. 2 Mill. Euro
Quelle: Leben & Wohnen – die Immobilienbeilage der Vorarlberger Nachrichten
Für den Inhalt verantwortlich:
vai Vorarlberger Architektur Institut
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