AA

Morbide Metropole: Alltag von Wien zwischen Totenkult und Spottlust

Das Buch "Morbides Wien" gibt dem Leser einen Einblick in die dunklen Bezirke der Stadt.
Das Buch "Morbides Wien" gibt dem Leser einen Einblick in die dunklen Bezirke der Stadt. ©APA/Moriz Bermann/AP (Sujet)
Zwischen Heurigen und Hinrichtungsspekatel, Todessucht und Spottlust, Narrenturm und Wurstelprater - dort hat der bizarre Alltag im barocken Wien Einzug gehalten. Als gruselig schöne Metropole steht die einstige Kaiserstadt im Buch "Morbides Wien" von Hans Veigl im Mittelpunkt. Auf seinem Streifzug lädt er die Leser zu einem Spaziergang durch die dunklen Wiener Bezirke und Gebräuche ein.
Gruselhäuser von Wien
Wiener Sagen auf der Spur
Vintage Vienna

“Wer verstehen will, wie der Wiener lebt, muss wissen, wie man ihn begräbt, denn sein Dasein ist innigst mit jenem Nimmersein verwoben, von dem er in unzähligen fröhlich-traurigen Liedern zu singen weiß”, zitiert Autor Hans Veigl Hermann Bahr. Die schöne Leich’ war in der einstigen Kaiserstadt ein Muss und auch heute noch verspürt man in Wien eine gewisse Art der “Zuneigung” für den Tod. Folgt man dem Autor, so hat wohl jeder Wiener Bezirk so seine dunklen – und wahrlich morbiden – Ecken.

Scheintod und Wienerlieder

Hans Veigl verlässt in seinem Buch “Morbides Wien – Die dunklen Bezirke der Stadt und ihrer Bewohner” die heiteren und prunkvollen Pfade, um einen Alltag, der himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, zwischen Amüsement und Abnormitätenschau stattfand, zu schildern. Sein Streifzug beginnt bei der Angst vor dem Scheintod und den damit verbundenen Entwicklungen, die das “Lebend-Begrabenwerden” verhindern sollten. Auch Dichter und Schauspieler Johann Nestroy hatte unbeschreibliche Todesfurcht und erlitt deswegen sogar Depressionen und Zusammenbrüche.

Neben einer gewissen “Faszination” für den Tod ist Wien auch für die Gemütlichkeit samt musikalischer Leidenschaft bekannt. Die Anfänge des Wienerliedes bzw. Trinkliedes reichen bis ins Mittelalter zurück, gefolgt von Straßenliedern und Bänkelsängern. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebten die Wienerlieder und das Volkssängertum dann ihren Höhepunkt. Die “Fiaker-Milli”, Anna Fiori, Wilhelm Wiesberg oder Edmund Guschlbauer waren weithin bekannt.

In ihren Liedern wurden vor allem der Wein, die Gemütlichkeit, die Liebe und – natürlich – der Tod besungen. Erwähnenswert: In der Sprache des Wienerliedes findet man bereits damals ein Repertoire an Verniedlichungsformen, die auch heute noch als “typisch wienerisch” gelten. A wengerl, a bisserl, Achterl, Schluckerl oder Flascherl gehören genauso wie die (oft als besänftigend) vorangestellten Einschubwörter wie Hörn S’, Schauen S’, Wissen S’, Netwar, Alsdern oder Freili zur lokalen Sprache.

A schöne Leich’ in Wien

“A schöne Leich” war und ist in Wien Teil des Lebens. Von pompösen Grabmälern über Gedenkstätten bis hin zu schlichten letzten Ruhestätten reihen sich am Zentralfriedhof die Gräberzeilen zu einer  Totenstadt zusammen. Als Besucher kann man sowohl die Gräber bedeutender Staatsmänner und prominenter Künstler, als auch die der Helden und Genies vergangener Zeiten besuchen. Im Buch erfährt man mehr zum historischen Hintergrund über Wiens altes Grabfeld.

Manche von den Toten sparten für ein herrschaftliches Begräbnisritual ein Leben lang. Davon zeugen auch Exponate im Bestattungsmuseum, wie beispielsweise mit Gold bestickte Sargtücher und Pferdegeschirre mit schwarzen Straußenfedern für den Leichenzug. Im Museum sind auch Kuriositäten zu bestaunen, darunter handbemalte Totenschädel und ein mehrfach benutzbarer Klappsarg.

Dass der Tod in Wien auch still sein kann, zeigt das “Gegenstück” zum mehrfach besungenen Zentralfriedhof: Der Friedhof der Namenlosen. Hier sucht man vergebens nach Prunk und Protz. Den Toten, meist Selbstmörder oder Verunglückte, welche die Donau aufgrund eines früher existenten Wasserstrudels anspülte, wurde kein pompöses Begräbnis zuteil. Nur wenige Touristen verweilen vor den Kreuzen mit der Aufschrift “Namenlos”, der Friedhof wird ehrenamtlich betreut.

“Luftgselchte” in der Michaelergruft

Touristen und auch Wiener können dem Tod auch direkt ins Gesicht sehen, beispielsweise in der Michaelergruft. In bunt bemalten Holzsärgen – einige von ihnen sind geöffnet – können die “Luftgselchten“ bestaunt werden. Der älteste Bericht von Augenzeugen über den Zustand der Katakomben unter dem Stephansdom stammt aus dem Jahr 1836. Gemeinsam mit ihrer Tochter stieg damals die englische Schriftstellerin Frances Trollope in die bereits jahrelang gesperrten Grüfte hinab.

Ihre Eindrücke hielt sie unter anderem so fest: “Es bot sich mir eine Szene dar, wie sie mich wahrscheinlich das ganze Leben hindurch in meinen Träumen verfolgen wird. […] Nachdem unser Führer uns Zeit gelassen hatte, uns umzusehen und die ganze abscheuliche Szene zu überblicken, fasste er einen dieser kläglichen Überreste eines menschlichen Wesens an der Gurgel, hob die Leiche vor unseren Augen empor, ließ sie vor uns aufrecht stehen, […] dann ließ er die rasselnde Leiche vor unseren Füßen hinfallen, hob eine andere auf, […] stützte sie mit der Hand, womit er das Licht hielt, gegen seinen Körper und riss mit der anderen lange Streifen der vertrockneten Haut auf, um zu zeigen, wie zähe sie sei.”

Sogenannte “Katakombenschauen” gegen Geld waren damals sehr bekannt, auch Adalbert Stifter nahm einige Jahre später an solch einer Teil. Er war der Letzte, der eine Schilderung der Katakomben hinterließ, wie sie damals zu bestaunen waren. Aufgrund der Aufregung, die die Berichterstattung über die morbiden Führungen auslöste, wurden sie teilweise zugeschüttet und vermauert.

Jack the Ripper in Wien

Ende des 19. Jahrhunderts wird von einem “Aufschlitzer von Wien” berichtet. Ein grausames Verbrechen in Wien-Ottakring erinnerte an den Frauenmörder von London und wurde ausführlich in den Zeitungen beschrieben. Die Umstände wiesen auf einen Lustmord hin, die Polizei konnte den Täter jedoch nie auffinden. War es ein Zuhälter, ein Fleischhauer, ein Chirurg oder wirklich Jack the Ripper, als Vergnügungsreisender im gemütlichen Wien?

Neben dem Wiener Jack the Ripper wird auch über Präuschers Panoptikum im Prater berichtet, das mit diversen Schaustellungen Aufsehen erregte. “Die größte Sehenswürdigkeit desselben wird jedoch nicht für Geld gezeigt, und diese ist der Herr selbst, der bekannte ehemalige Löwenbändiger Hermann. Er dürfte den Wienern bekannt sein, aber was nicht jeder weiß, ist eine eigentümliche, ihn jetzt beherrschende Marotte. Hermann kauft mit einer unbegreiflichen Leidenschaft Menschenhäute noch lebender Personen.” Die Wiener liebten diese außergewöhnliche Institution des Panoptikums und der angeschlossenen ausgestopften Leichen.

Morbide Metropole: Bizarre Geschichte Wiens

In Wien, wo die politische Lage oftmals hoffnungslos, aber niemals ernst ist, wo das Begräbnis nach Klassen organisiert, und die Geschichte ihre Leichen im Keller zurücklässt, findet sich immer auch ein gemütliches Wirtshaus für den Leichenschmaus gleich ums nächste Eck. Mit einem Sinn für das Makabre und Bizarre zeigt Autor Hans Veigl aufschlussreiche Züge des Wienerischen – einen Alltag, der sich zwischen Heurigen und Galgenspektakel, Todesangst und Spottlust und Hetz und Wienerlied abspielte.

Buchtipp:

Morbides Wien – Die dunklen Bezirke der Stadt und ihrer Bewohner

Verlag: Böhlau

Autor: Hans Veigl

ISBN: 978-3-205-79576-6

9783205795766

 

  • VIENNA.AT
  • Wien
  • Morbide Metropole: Alltag von Wien zwischen Totenkult und Spottlust
  • Kommentare
    Kommentare
    Grund der Meldung
    • Werbung
    • Verstoß gegen Nutzungsbedingungen
    • Persönliche Daten veröffentlicht
    Noch 1000 Zeichen